Scratchbook

Das Leben ist immer anders als die Realität.

Unterdrückung des Eros

Claude, 1. November 2014, 15:50 Uhr

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Eros ist die Liebe Gottes, die in der Welt ständig auf der Suche ist nach einer neuen, harmonischeren Synthese aller Erfahrungen und Wahrnehmungen, aus denen das Universum besteht. Auf der menschlichen Ebene sucht Eros vor allem nach einem besseren gegenseitigen Verstehen und liebevolleren Gemeinschaftsformen. Eros ist die zentrale Triebfeder für das Motivationssystem jedes einzelnen. Es ist der göttliche Funken in unserem Inneren. Ihm kann und sollte vertraut werden. Eros weiß, was wir insgeheim möchten und wessen wir besonders bedürfen. Leider liegt den Kindererziehungspraktiken und pädagogischen Methoden unserer Gesellschaft ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Eros der Kinder zugrunde. Wir möchten, dass die Kinder nicht mehr aus ihrem ureigenen Antrieb heraus handeln. Wir möchten, dass sie gerade die Tätigkeiten und Beziehungen, die sie am tiefsten berühren, die ihnen die meiste Erregung verschaffen und die sie am innigsten wünschen, nicht mehr fortsetzen. Wir möchten, dass Kinder alles preisgeben, was aus ihrer Sicht einzigartig ist. Sie sollten unkritisch die Ansichten, Vorlieben, Abneigungen, Vorurteile und Rachegelüste ihrer Gesellschaft teilen.

Diese Angriffe, die darauf zielen, den Eros der Kinder zu unterdrücken und sie ihren ureigenen Antrieben, Gefühlen und Sichtweisen zu entfremden, wurden manchmal als „Das Kind zähmen/brechen“ (Breaking the child) bezeichnet. Die grausamen und gewalttätigen Methoden, die oft angewendet werden, um Pferde zu zähmen, stellen in der Tat einen geeigneten Metapher dar für einige dieser unerhörten Kindererziehungsmethoden. Wenn es nicht durch Schläge und Erniedrigungen erreicht werden kann, das Kind zu brechen, muss es mit List und Tücke versucht werden.

In letzter Zeit wird die zum Funktionieren der Schulen notwendige Unterdrückung mit Medikamenten erreicht. Wir geben Ritalin, weil wir sie nicht mehr schlagen dürfen. Natürlich geschieht dies alles im Namen und zum Wohle des Kindes. Oft wird es „Therapie“ genannt. Aber in Wirklichkeit schädigt die Unterdrückung des Eros die emotionale Gesundheit des einzelnen und der Gesellschaft zutiefst.

Das zentrale Triebreservoir menschlichen Wesens ist nicht – wie Freud es in seinem Konzept als „ES“ skizziert hat – ein antisoziales Monster mit niedrigsten Vergnügungstrieben, das die sozialen Gefüge zerstört, sobald es dies vermag. Dieses Negativbild von dem, was menschliche Wesen in Innersten wollen, muss korrigiert werden, denn es dient als Rechtfertigung für all die lebensfeindlichen pädagogischen Methoden, denen Kinder regelmäßig ausgesetzt werden. Wenn der kräftige Lebenswille in Kindern gelegentlich Freuds ES ähnlich ist, dann deswegen, weil dieser Wille durch Repressionen und Ängste verdreht und unkenntlich gemacht wurde.

Kinder müssen nicht gezähmt/gebrochen werden. Von Geburt an suchen Kinder liebevolle, erfüllte Beziehungen. Kinder sind von Natur aus soziale Wesen. Sie möchten Erwachsenen gefallen, und denjenigen nacheifern, die sie bewundern. Mehr als alles andere möchten sie dazugehören. Kinder sind von Natur aus neugierig. Sie sind voller Fragen – sie möchten alles wissen. Sie müssen nicht gezähmt/gebrochen werden, um sozialisiert oder lernbereit zu werden. Kinder zu brechen führt im Gegenteil zu antisozialen Impulsen und zerstört die natürliche Neugierde, die Treibfeder für das Lernen sein könnte. Eine Gesellschaftsstruktur, für die es nötig ist, Kinder zu brechen/zähmen, um fortzubestehen, ist nicht erhaltenswert. Selbst Pferde müssen nicht gebrochen werden.

Sex ist nur eine der vielen Formen, die Eros annimmt. Wie dem auch sei, Sex hat in unserer Gesellschaft eine besondere Rolle, denn die heftigsten Angriffe auf den kindlichen Eros zielen in der Regel auf seine körperlichen Äußerungen und Wünsche. Der Mythos vom unschuldigen, asexuellen Kind wird benützt, um Kinder ihren eigenen sexuellen Gefühlen und Wünschen zu entfremden. Alles und jedes von Seiten des Kindes, das diesen Mythos anrührt, gibt Anlass zu Besorgnis und wird mit Strafe belegt. Kindern wird nur widerstrebend erlaubt zu masturbieren, sie dürfen selten nackt herumlaufen, und sie werden bloßgestellt, wenn sie zu viel Interesse für den Körper des anderen zeigen, werden gedemütigt, wenn ihre sexuellen Interessen sich auf Personen gleichen Geschlechts richten, und werden verbal und teils auch physisch gezüchtigt, wenn sie sich in sexuelle Spiele mit anderen Kindern einlassen. Und sollte ein Kind die schrecklichste aller möglichen Manifestationen des Eros zeigen – das wäre sexuelles Interesse an einem Erwachsenen – so wird dies als Beweis dafür gesehen, das es missbraucht worden ist. Der Endeffekt davon ist, dass Kinder lernen, den eigenen Körper als Ort gefährlicher, schändlicher und schmutziger Treibe zu erleben. Dieses ist der normale Weg der Kindererziehung in unserer Gesellschaft. So machen es gute Eltern und Lehrer.

Wenn der natürliche Eros der Kinder durch ihre Sorgeberechtigten zerstört wird, geraten sie in eine innere Wut. Die erotischen Impulse wollen nicht verschwinden, obwohl es verboten ist, ihnen Ausdruck zu verleihen. Diese Impulse schwären außerhalb der Skala verbalen Bewußtseins und bersten dann mit einem durch Repression erzeugten Druck hervor. Schließlich brechen diese vereinten Energien durch, als Metapher sexueller Aggression: Die Gang, die schlagende Verbindung, das Schwert, die Kanone, das laute und PS-starke Flugzeug oder Auto, die Rakete oder die Bombe. Diese Aggression muss umgeleitet werden, sie muss weg von den Eltern, Lehrern und Sorgeberechtigten gerichtet werden, die für die Repression verantwortlich sind. Es ist zu schwierig, ohne Billigung und Unterstützung der Menschen zu leben, die man liebt. Und erst recht möchte man sie nicht zerstören. So wird die sexuelle Aggression auf Feinde umgeleitet. Jede Gruppierung, jede Minderheit, kann als untermenschlich oder minderwertig angesehen werden und als willkommener Sündenbock herhalten. Die Unterdrückung des Eros der Kinder führt im Endeffekt dazu, gewalttätige, innerlich leere Bürger heranszubilden, die ihren wahren Bedürfnissen entfremdet sind und die gerne bereit sind, verschiedene Arten von Feinden zu verfolgen und sogar zu töten. Eine Gesellschaft, die auf der Unterdrückung des Eros basiert, benötigt Feindbilder.

Wir müssen den Ursprung der Gewalt nicht in der außergewöhnlichen oder abnormalen Anteilen dieser Gesellschaft suchen. Vielmehr wird Gewalt gesät, unterhalten und gefördert durch die normalen, landläufig akzeptierten Praktiken, mit denen wir Kinder erziehen und miteinander umgehen.

Natürlich erlaubt eine jede Gesellschaft nur extrem ungern eine ernsthafte Hinterfragung ihrer fundamentalen Annahmen über das rechte Leben. Aber genau das ist notwendig, wenn wir weniger gewalttätig werden sollen. Vor allem müssen wir die tief verwurzelte Annahme korrigieren, dass zivilisiertes Leben Unterdrückung benötigt. Wir müssen uns mit unserer Furcht vor dem Eros beschäftigen und all den harmvollen Erziehungspraktiken und pädagogischen Methoden, die auf dieser Furcht beruhen.

(Quelle)

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