Edward Snowden: Das Internet
Was macht ein Leben aus? Es besteht aus mehr als nur unseren Worten und Taten. Ein Leben ist auch das, was wir lieben und woran wir glauben. Für mich persönlich sind das Verbindungen, Verbindungen zwischen Menschen und die Technologien, die sie ermöglichen. Zu diesen Technologien gehören natürlich auch Bücher. Doch für meine Generation ist Verbindung größtenteils gleichbedeutend mit dem Internet.
Wenn Du nun vor meinen Ausführungen zurückschreckst, weil Du die gefährliche Entwicklung, die das Internet in den letzten Jahren genommen hat, nur zu gut kennst, bedenke bitte, dass das World Wide Web, als ich es kennenlernte, völlig anders war. Es war ein Freund, es war Mutter und Vater. Es war eine grenzenlose Gemeinschaft, die mit einer oder mit Millionen Stimmen sprach, Neuland, das allen offenstand, besiedelt, aber nicht ausgebeutet von den unterschiedlichsten Gruppen, die einträchtig miteinander lebten. Es stand jedem Mitglied frei, sich einen Namen, eine Geschichte und Regeln zu geben. Zwar trugen alle eine Maske in Form von Alias-Namen, doch diese Kultur der Anonymität durch Polyonymie brachte mehr Wahrheit als Unwahrheit hervor, denn sie war kreativ und kooperativ statt kommerziell und konkurrenzorientiert. Zweifellos gab es auch Konflikte, aber guter Wille und Freude überwogen – der wahre Pioniergeist.
Wie soll ich es jemandem erklären, der es nicht erlebt hat? Meine jüngeren Leser halten das damals im Entstehen begriffene Internet wahrscheinlich für viel zu langsam und das damalige World Wide Web für hässlich und wenig unterhaltsam. Aber online zu sein war damals ein alternatives Leben, das den meisten als etwas Eigenständiges, vom realen Leben Getrenntes erschien. Virtuelles und Tatsächliches hatten sich noch nicht vermischt. Und es war Sache jedes einzelnen Nutzers, für sich selbst festzulegen, WO das eine endete und das andere begann.
Genau das war so anregend: die Freiheit, sich etwas vollkommen Neues auszudenken, die Freiheit, ganz von vorn anzufangen. Was dem Web 1.0 an Nutzerfreundlichkeit und gutem Design fehlte, wurde durch die Möglichkeit des Experimentierens und neue Ausdrucksformen mehr als wettgemacht. Damals lag der Schwerpunkt auf der Kreativität des Einzelnen. Eine typische beim Webhoster GeoCities betriebene Seite zum Beispiel hatte einen blinkenden Hintergrund, der zwischen Grün und Blau wechselte, und quer durch die Mitte scrollte ein weißer Text wie ein grelles Spruchband – Read This First!!! – unter dem Bild eines tanzenden Hamsters im GIF-Format. Für mich zeigten diese unbeholfenen Schrullen der Amateure, die all dies produzierten, vor allem, dass die maßgebliche Intelligenz hinter der Seite menschlich war – und einzigartig.
Informatikprofessoren und Systemingenieure, im Nebenjob programmierende Anglistikstudenten und spleenige politische Ökonomen teilten nur allzu gern ihre Forschungsergebnisse und Überzeugungen mit – und zwar nicht wegen irgendeines finanziellen Vorteils, sondern um Jünger für ihre Sache zu gewinnen. Ob Ihre Sache nun MS Dos war oder Mac OS, makrobiotische Ernährung oder die Abschaffung der Todesstrafe, es interessierte mich. Es interessierte mich, weil sie begeistert waren. Mit vielen dieser seltsamen und brillanten Menschen konnte man sogar Kontakt aufnehmen, und sie beantworteten nur allzu gern meine Fragen direkt über ihre Seite (»Klicken Sie auf diesen Link oder kopieren Sie ihn in Ihren Browser«) oder ihre E-Mail-Adressen (@usenix.org, @frontier.net), die auf ihren Seiten angegeben waren.
Als die Jahrtausendwende näherrückte, wurde die Online-Welt immer stärker zentralisiert und gefestigt. Regierungen und Unternehmen bemühten sich zunehmend darum, in dieses System hineinzukommen und einzugreifen, ein System, das im Wesentlichen immer eine Peer-to-Peer-Kommunikation gewesen war. Aber für einen kurzen, wunderschönen Zeitraum – einen Zeitraum, der zu meinem Glück fast genau mit meiner Pubertät zusammenfiel – wurde das Internet vorwiegend von Menschen für Menschen gemacht. Sein Zweck war es nicht, Geld zu verdienen, sondern aufzuklären, und es wurde eher durch einen provisorischen Cluster sich ständig wandelnder, kollektiver Normen geregelt als durch ausbeuterische, der ganzen Welt aufgezwungene Nutzungsbedingungen. Bis heute halte ich die Online-Welt der neunziger Jahre für die angenehmste und erfolgreichste Anarchie, die ich jemals erlebt habe.
Insbesondere beschäftigte ich mich mit den webbasierten Mailboxen (Bulletin Board System/BBS), so etwas wie elektronische Schwarze Bretter. Dort konnte man einen Benutzernamen wählen und jede Nachricht tippen, die man veröffentlichten wollte, wobei man entweder zu einer bereits bestehenden Gruppendiskussion beitrug oder eine neue begann. [Meine Frage zu einem Chipsatz, der nicht für mein Motherboard kompatibel war], wurde wortreich von einem Profi-Informatiker beantwortet, der auf der anderen Seite der USA wohnte. Seine Antwort war nicht aus irgendeinem Handbuch abgeschrieben, sondern ausdrücklich für mich zusammengestellt, damit ich meine Probleme Schritt für Schritt bearbeiten konnte, bis ich sie gelöst hatte. Ich war damals zwölf Jahre alt, und mein Korrespondenzpartner war ein fremder Erwachsener, der weit weg wohnte, und doch behandelte er mich wie seinesgleichen, weil ich Respekt für die Technologie gezeigt hatte. Seine Höflichkeit, so weit entfernt von der hinterhältigen Aggressivität in den heutigen sozialen Medien, führe ich auf die hohen Eintrittshürden jener Zeit zurück. Schließlich waren die einzigen Menschen, die sich damals an solchen Foren beteiligten, diejenigen, die überhaupt dort sein konnten, die unbedingt dort sein wollten und nicht nur Leidenschaft, sondern auch die notwendigen Fachkenntnisse mitbrachten. In den neunziger Jahren war das Internet nicht einfach nur einen Klick entfernt. Schon das Einloggen erforderte beträchtliche Anstrengung.
Aber auch wenn ich den BBS-Teilnehmern sagte, wie alt ich war, verriet ich meinen Namen nie; es gehörte zu meinen größten Vergnügungen, dass ich auf diesen Plattformen nicht der sein musste, der ich wirklich war. Ich konnte jeder sein. Die Anonymisierung oder die Pseudonyme brachten alle Beziehungen ins Gleichgewicht und korrigierten jede Ungleichheit.
In den neunziger Jahren war das Internet noch nicht der größten Schandtat des Digitalzeitalters zum Opfer gefallen: Den Bemühungen von Regierungen und Unternehmen, die Online-Identitäten eines Nutzers so eng wie möglich an seine tatsächliche Offline-Identität zu koppeln. Kinder konnten online gehen und an einem Tag die dümmsten Dinge sagen, ohne dass man sie dafür am nächsten verantwortlich machte. Manch einem mag das nicht als die gesündeste Umgebung erscheinen, um darin aufzuwachsen, und doch ist es die einzige Umgebung, in der man überhaupt wachsen kann. Damit meine ich, dass die Entkopplungsmöglichkeiten des frühen Internets mich und andere meiner Generation dazu ermutigten, unsere tiefsten Überzeugungen zu ändern, statt uns einzugraben und sie zu verteidigen, wenn sie in Frage gestellt wurden. Mit dieser Fähigkeit, uns immer wieder neu zu erfinden, mussten wir unseren Geist nie verschließen, indem wir uns für eine Seite entschieden, und wir mussten auch nicht aus Angst, unserem Ruf irreparablen Schaden zuzufügen, zusammenrücken. Fehler, die schnell bestraft, aber auch schnell richtiggestellt wurden, schufen sowohl für die Community als auch für den »Übeltäter« die Möglichkeit, weiterzumachen.
Für mich und viele andere war das Freiheit.
Stell Dir vor, Du könntest jeden Morgen sowohl ein neues Gesicht als auch einen neuen Namen annehmen, mit denen Du in die Welt hinaustrittst. Stell Dir weiter vor, Du könntest eine neue Stimme annehmen und damit neue Worte sprechen, als wäre der Internetbutton in Wirklichkeit ein Resetbutton für das ganze Leben. Im neuen Jahrtausend wandte sich die Internettechnologie jedoch ganz anderen Zielen zu: Man zwingt uns zu umfassender, detailgetreuer Erinnerung, unsere Identitäten werden abgeglichen und festgehalten, und all das schafft ideologische Konformität. Vorher aber schützte die Technologie uns zumindest eine Zeitlang, indem sie unsere Übertretungen vergaß und unsere Sünden vergab.
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Das heutige Internet hat damit nichts mehr zu tun. Es ist wichtig zu wissen, dass dieser Wandel bewusst herbeigeführt wurde, dass er das Ergebnis systematischer Bestrebungen einiger weniger Privilegierter war. Das eilige Bemühen, Kommerz in E-Commerce zu verwandeln, erzeugte rasch eine Blase und führte unmittelbar nach der Jahrtausendwende zum Kollaps. Jetzt erkannten die Unternehmen, dass Menschen, die online gingen, viel weniger am Geld ausgeben als an Kommunikation und Austausch interessiert waren. Aber auch dies ließ sich gewinnbringend vermarkten. Wenn Menschen online am liebsten ihrer Familie, ihren Freunden oder auch Fremden mitteilten, was sie vorhatten, und im Gegenzug von Familie, Freunden und Fremden erfahren wollten, was diese vorhatten, dann mussten die Unternehmen einfach nur herausfinden, wie sie selbst zum Dreh- und Angelpunkt dieses sozialen Austausches werden und daraus Profit schlagen konnten.
Dies war die Geburtsstunde des Überwachungskapitalismus und der Tod des Internets, wie ich es kannte.
Nun brach das kreative World Wide Web zusammen und mit ihm unzählige wunderbare, komplexe und individuelle Websites. Aus Bequemlichkeit tauschten die Menschen ihre persönlichen Seiten, die permanente und aufwendige Wartung verlangten, gegen eine Facebook-Seite und einen Gmail-Account ein. Der Glaube, diese kontrollieren zu können, war trügerisch, denn sie gehörten uns bereits nicht mehr. Damals verstanden das nur wenige von uns. Die Nachfolger der gescheiterten E-Commerce-Unternehmen hatten nun ein neues Produkt im Angebot.
Das neue Produkt waren WIR.
Unsere Interessen, unsere Aktivitäten, unsere Aufenthaltsorte, unsere Sehnsüchte – alles, was wir wissentlich oder unwissentlich von uns preisgaben, wurde überwacht. Unsere Daten wurden verkauft, heimlich, damit wir möglichst lange nicht merkten, dass wir ausgebeutet wurden. Die Überwachung wurde von Regierungen, die nach unendlich vielen Informationen gierten, aktiv gefördert und sogar finanziell unterstützt. Abgesehen von Log-ins, E-Mails und finanziellen Transaktionen war die Online-Kommunikation in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends kaum verschlüsselt. Das hieß, dass sich Regierungen in den meisten Fällen gar nicht erst die Mühe machen mussten, an Unternehmen heranzutreten, um herauszufinden, was deren Kunden machten. Sie konnten die ganze Welt einfach ausspionieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
In eklatanter Missachtung ihrer Gründungscharta fiel die US-amerikanische Regierung genau dieser Versuchung zum Opfer. Nachdem sie die vergiftete Frucht dieses Baumes erst einmal gekostet hatte, wurde sie von einem erbarmungslosen Appetit gepackt. Im Geheimen führte sie die Massenüberwachung ein, eine Maßnahme, die per Definition Unschuldige in weitaus größerem Maße betrifft als Schuldige.
Aus: Permanent Record. Die Geschichte von Edward Snowden
Siehe auch: Das Web, welches wir uns bewahren müssen