Wahlrecht für Kinder – ohne Altersgrenze
Heutzutage sind Geschlecht, Hautfarbe, Besitz und Behinderung keine Kriterien mehr dafür, ob ein Mensch das Wahlrecht hat oder nicht. Anders ist dies bisher bei einer anderen Eigenschaft, auf die der Mensch keinen Einfluß hat: seinem Alter. Dies halten wir für ungerecht. Unsere Forderung ist daher das Wahlrecht ohne Altersgrenze.
Erst wenn Kinder und Jugendliche eine Wahlstimme haben, werden Politiker und Parteien nicht mehr daran vorbeikommen, die Interessen dieser Bevölkerungsgruppe zu beachten. Es geht aber nicht nur darum, daß Kinder und Jugendliche in der Kinder-, Jugend-, Familien- und Schulpolitik mitbestimmen, auch nicht nur in der Umwelt-, Verkehrs- und Baupolitik, sondern gleichberechtigt mit allen auch in Bereichen wie Innenpolitik, Wirtschaft und Finanzen. Kinderparlamente oder -beiräte sind reine Spielwiesen und für echte Mitbestimmung gänzlich ungeeignet. In einer Demokratie sollte gelten, daß alle Menschen, die von Entscheidungen betroffen sind, an deren Zustandekommen beteiligt werden, und sei es über den Umweg, daß sie die Entscheidungsträger in Parlamente wählen.
Oft heißt es, Kinder seien zu unreif zum Wählen. Dabei geht es beim Wählen überhaupt nicht um Reife oder Kompetenz. Denn es gibt keine Instanz die objektiv über die Qualität der Argumente entscheiden könnte. Außerdem sind Wahlen keinesfalls ausschließlich rationale Angelegenheiten. Es werden einfach Stimmen gezählt. Und dabei zählt die Stimme des Politologieprofessors oder Spitzenkandidaten genausoviel wie die des betrunkenen politisch uninteressierten Fußballfans, des senilen Rentners oder dann auch des Kindes. Es ist auch vollkommen egal, ob sich Kinder mit Politik auskennen oder ob überhaupt jeder wählen will. Es geht ja um ein Recht und nicht um eine Pflicht. Das Wahlrecht ist ein Grundrecht. Darum darf es auch nicht an irgendwelche Pflichten gekoppelt werden.
Oft hört man auch, Kinder seien beeinflußbar. Aber wer ist das nicht? Wozu dann Wahlkampf und Wahlwerbung? Beeinflussung ist etwas ganz normales. Auch Eheleute beeinflussen sich gegenseitig. Aber Kinder würden ja nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von Freunden oder anderen Menschen, mit denen sie zu tun haben, beeinflußt werden. Es ist jedenfalls immer noch besser, wenn Kinder von sich aus das gleiche wählen wie ihre Eltern, als wenn die Eltern für jedes Kind noch eine Stimme dazukriegen. Ähnlich wie sich der Blick auf Frauen nach der Einführung des Frauenwahlrechts geändert hat, wird sich auch der Blick auf Kinder ändern, wenn diese das Wahlrecht haben. In Bezug auf den Wahlkampf müßte dieser im Zweifelsfall reguliert werden, statt 20% der Bevölkerung von der Demokratie auszusperren.
Auch daß Jugendliche vielleicht eher radikale Parteien wählen, kann kein Argument sein. Es ist schlicht undemokratisch zu sagen: „Na welche Leute lassen wir denn wählen, damit ein schönes Ergebnis rauskommt?“. Aber nach Einführung des Kinderwahlrechtes werden sich die Parteiprogramme ohnehin ändern. Nicht nur die langfristigen Folgen der heutigen Politikentscheidungen werden dann mehr Berücksichtigung finden. Auch die gegenwärtigen Probleme von jungen Menschen – besonders in Schule und Familie – werden dann mehr beachtet werden müssen. Schließlich wollen Politiker und Parteien ja gewählt werden.
Martin Wilke, 1998
(Quelle)