Überwachung bringt Minderheiten zum Schweigen
Was passiert, wenn bekannt ist, dass die Kommunikation und die Präsenz im öffentlichen Raum überwacht wird? Kein Problem, sagen die Sicherheitsbefürworter. Herausgepickt werden nur die Bösen, wer sich nichts zu Schulden kommen lässt, hat nichts zu befürchten – und braucht sein Verhalten nicht zu ändern. Das ist natürlich Unsinn, denn die Menschen, nicht nur die Bösewichter, passen ihr Verhalten dort an, wo sie glauben, beobachtet zu werden. Das ist so ähnlich, wie sich das Verhalten im Straßenverkehr verändert, wenn ein Polizeiauto zu sehen ist. Plötzlich werden Raser und Drängler zu Fahrern, die sich gewissenhaft an die Verkehrsregeln achten.
Selbstverständlich verändert das Wissen um die massenhafte Überwachung der Kommunikation auch das, was Menschen sich mitteilen. Wenn das Wissen vorhanden ist, dass man nicht mehr privat und unbeobachtet sprechen kann, sondern das Sprechen in der Öffentlichkeit und in das Ohr von Big Brother geschieht, findet zumindest eine stärkere Selbstkontrolle statt, zumindest in nüchternem Zustand. Das hat nun auch eine Studie bestätigt, die damit auch klar macht, worin der Unterschied (noch) zwischen einem Gespräch in einer Kneipe, am Stammtisch, und in Sozialen Netzwerken besteht. Verwunderlich ist dennoch, dass offenbar viele noch denken, sie würden sich hier unter Freunden privat mitteilen. Irgendwie scheint die persönliche Situation, alleine in ein Gerät etwas zu schreiben, dennoch zu suggerieren, dass man nicht weltöffentlich kommuniziert.
Wenn aber den Kommunizierenden gewahr wird, dass sie in der Öffentlichkeit und im Angesicht der Sicherheitsbehörden kommunizieren, wird das auch in Diktaturen bekannte Spiel von Schweigen und Andeutungen dominant, mithin das Gegenteil einer offenen Gesellschaft. Aber wie soll auch eine offene Gesellschaft stattfinden, wenn sie unter der massiven Beobachtung der Polizei und der Geheimdienste steht, die angeblich die Offenheit schützen sollen, aber selbst ziemlich intransparent sind? Tatsache ist in den USA – wie anderswo -, dass nach den Enthüllungen von Snowden praktisch jeder weiß, dass seine Kommunikation, vor allem seine Online-Aktivitäten, von den Geheimdiensten überwacht werden, es hier also keine Privatsphäre gegenüber staatlichen Instanzen gibt (um von den IT-Konzernen gar nicht zu sprechen).
Eine in der Zeitschrift Journalism and Mass Communication Quarterly veröffentlichte Studie von Elizabeth Stoycheff von der Wayne State University hat die „Schweigespirale“, die entsteht, wenn sich Menschen der herrschenden oder erwarteten Meinung anpassen, um nicht isoliert oder bestraft zu werden, anhand von Experimenten überprüft.
Die 255 Versuchsteilnehmer, die die Zusammensetzung der US-Bevölkerung repräsentieren sollen, wurden zunächst über ihre politischen Überzeugungen, Persönlichkeitsmerkmale und Online-Aktivitäten befragt. Zufällig ausgewählte 121 Versuchspersonen erhielten eine Mitteilung, durch die sie zu der Überzeugung gedrängt werden sollten, dass ihr Online-Verhalten von der Regierung bzw. der NSA beobachtet wird: „The next section of the survey asks for your honest opinions about some controversial political issues. While we make every attempt to ensure your opinions are kept confidential, it is important to keep in mind that the National Security Agency does monitor the online activities of individual citizens, and these actions are beyond the study’s control.“
Danach erhielten alle Teilnehmer eine fiktive und neutrale ABC-Facebook-Nachricht mit Foto über die Bombardierung des Islamischen Staat durch die USA. Danach wurden alle gebeten auf einer Skala anzugeben, ob sie diese kommentieren, liken, teilen oder als eigenes Posting verbreiten würden. Sie wurden zudem gebeten zu sagen, ob sie mit den Bombardierungen einverstanden sind oder diese ablehnen und wie die Mehrheit der Amerikaner dies sehen würde. Sie sollten angeben, ob die massenhafte Überwachung zum Schutz der nationalen Sicherheit notwendig sei, ob sie zum Schutz der Bürger erforderlich sei und ob man nicht dagegen habe, weil man nichts zu verbergen hat. Zur Kontrolle wurden andere Fragen nach der politischen Ideologie, dem politischen Interesse, über das politische Wissen oder über die Wahrscheinlichkeit eines nächsten Anschlags gestellt.
Diese fiktive Nachricht erhielten die Versuchsteilnehmer.
Nichts zu verbergen – Haltung des Konformismus
Je weiter die eigene Meinung von der angenommenen Mehrheitsmeinung abweicht, desto weniger wollen die Menschen ihre Haltung online äußern. Wer davon ausgeht, dass bald ein Terroranschlag drohen könne, und sich als politisch interessiert klassifizierte, war eher bereit, sich zu äußern. Der Glaube, überwacht zu werden, wirkt sich nicht unmittelbar aus, auch dann nicht, wenn die Überwachung als ungerechtfertigt betrachtet wird. Wenn aber das „Meinungsklima“ auch davon geprägt wird, dass die Überwachung akzeptiert oder gar als notwendig betrachtet wird, tritt die Selbstzensur am stärksten ein.
Wer also erklärt, nichts verbergen zu haben, scheint gerade besonders Angst zu haben, etwas zu offenbaren, was negative Konsequenzen haben könnte, ließe sich mithin sagen. Die Annahme, überwacht zu werden, führt also nicht als solches zum Verschweigen, der Einfluss ist subtiler, auch wenn die Mehrheit derjenigen, die glaubten, überwacht zu werden, weniger gewillt war, in einem „feindlichen Meinungsklima“ ihre von der Mehrheit abweichenden Meinungen zu äußern.
Für Stoycheff ist das Ergebnis, dass die Menschen, die sagen, sie hätten nichts zu befürchten, weil sie nichts verbrochen und nichts zu verbergen hätten, und die Überwachung befürworten, am ehesten ihre Minderheitsmeinungen nicht äußern und sich konformistisch geben, erhellend. Angst hätten die Menschen vielleicht, sagt die Autorin, weniger vor der sozialen Isolation seitens der Mitmenschen, sondern vor der Isolation durch den Staat oder die Regierung, also bestraft, verfolgt oder benachteiligt werden zu können.
Es gehe bei weitem nicht nur um Überzeugung, dass man gesetzeskonform lebt, Online-Privatsphäre sei ein „fundamentales Recht“, sich selbst darzustellen. Zudem stärke Überwachung die Kultur der Selbstzensur und drücke Minoritäten weiter an den Rand: „Demokratie gedeiht durch die Verschiedenheit der Ideen, Selbstzensur erstickt sie.“ Die Überwachung durch Behörden und Unternehmen untergrabe die Möglichkeit des Internet, eine „Plattform für eine ehrliche und offene Diskussion“ zu sein. Anstatt für alle Stimmen offen zu sein, würden so die dominantesten gestärkt.