Eine Schule als Hackerspace: Die Sudbury Valley School
Der Schultyp, der hier im folgenden beschrieben werden soll, mag utopisch klingen, ist jedoch lebendige Realität: Die älteste dieser Schulen, die Sudbury Valley School in Framingham (Massachusetts, USA), existiert schon seit 1968. Mittlerweile gibt es weltweit, auf vier Kontinenten, mehr als 30 Schulen nach dem Modell der Sudbury Valley School. Immer wieder hat sich in diesen Schulen eindrucksvoll gezeigt, mit welcher Freude, mit welcher Konzentration und welch beachtlichen Ergebnissen Kinder und Jugendliche in Freiheit Lernen. Die Sudbury Valley School ist ein wahres „Erfolgsmodell“, das nun hier als staatliches Bildungsangebot in Serie gehen könnte.
Allgemeines
Diese Schule umfaßt zwischen etwa 20 und 250 Schülern und je nach Schülerzahl drei bis zwölf Mitarbeiter. Die jüngsten Schüler sind etwa vier Jahre alt, die ältesten ungefähr 20. Das „Eintrittsalter“ variiert von Schüler zu Schüler, aber grundsätzlich ist es nie zu spät, Schüler dieser Schule zu werden, und aufhören kann man natürlich auch zu jeder Zeit.
Die Schüler können den ganzen Tag über tun und lassen, was sie wollen, sofern sie dabei niemand anderes stören. Sie können die Schule und das Schulgelände jederzeit und ohne Begründung verlassen. Es gibt keine Pflichtveranstaltungen, höchstens gegenseitige freiwillige Vereinbarungen zwischen Mitarbeitern und Schülern und auch zwischen Schülern untereinander.
Schüler und Mitarbeiter sind völlig gleichberechtigt. Die Schüler duzen die Mitarbeiter und reden sie mit dem Vornamen an, und umgekehrt ist es natürlich genauso. Die Beziehungen zwischen den Schülern und den Mitarbeitern unterscheiden sich kaum von den Beziehungen der Schüler untereinander. Die Atmosphäre in der Schule ist locker und familiär.
Die Schüler werden nicht nach dem Alter getrennt. Klassen gibt es nicht. Freundschaften und Interessengemeinschaften wie Lerngruppen entstehen über Altersunterschiede hinweg.
Ulysses, Amelia, Lucie, and Cady, students at the Hudson Valley Sudbury School in Woodstock, look at playground design possibilities.
Leben und Lernen
Unterricht im herkömmlichen Sinne ist die Ausnahme und kommt nur zustande, wenn Schüler dies ausdrücklich wünschen. Lernen ist voll im Leben integriert. Daß die Schule ein Lebensort ist, zeigt sich auch daran, daß sie ähnlich wie eine große Wohnung eingerichtet ist. Klassenräume gibt es nicht.
Einige sitzen still irgendwo in der Gegend und lesen ein Buch, andere unterhalten sich oder diskutieren über irgend etwas und noch andere spielen, machen Sport, surfen im Internet, lesen Zeitung, zeichnen, machen Musik, träumen, usw. Irgendeine Sache klappt nicht so, wie man es sich gedacht hatte, also überlegt man, wie man das Problem lösen kann. Man will irgendwas wissen, also versucht man, es herauszufinden. Manche Sachen probiert man einfach aus, andere läßt man sich von jemandem erklären. Einen Teil lernt man dadurch, daß man Erwachsenen zusieht, wie sie eine Sache tun, oder dadurch, daß man es mit ihnen zusammen tut. Aber das meiste, was man lernt, lernt man von anderen Kindern; und es hat mit dem Leben zu tun – wie man lebt und wie Sachen geschehen. Das meiste kommt vom Herumsitzen und Reden: ein Gedanke kommt auf und entwickelt sich von sich aus weiter. Oft ist einem gar nicht bewußt, daß man lernt. Lernen passiert ganz natürlich, wie atmen auch. Hier wird nicht Zeit abgesessen, sondern hier findet aktives Leben statt.
Daß es in so einer Schule keinen Lehrplan gibt, ist klar. Jeder beschäftigt sich damit, wofür er sich interessiert. Niemand kann einen anderen zum Lernen zwingen. Jeder Schüler entscheidet selbst, welche Themen wichtig sind, und welche nicht. Der Schüler hat die volle Verantwortung für sein Lernen und seine Aktivitäten an der Schule. Niemand hat das Recht, sich in seine Aktivitäten einzumischen – solange der Schüler durch diese nicht das Recht anderer, das gleiche zu tun, verletzt. Es gibt keine Höherbewertung akademischer Themen gegenüber anderen Beschäftigungen. Auch sind die Schüler keiner ständigen Aufsicht durch die Mitarbeiter ausgesetzt.
Die Mitarbeiter drängen sich also nicht auf, sondern stehen zur Verfügung. Da die Schüler hauptsächlich alleine oder von anderen Kindern lernen und Erwachsene nur gelegentlich zu Rate ziehen, werden an Sudbury-Schulen insgesamt nicht so viele Mitarbeiter benötigt wie an traditionellen Schulen. Und während es an den meisten Schulen Lehrer, Hausmeister, Reinigungspersonal und Verwaltungsleute als getrennte Berufe gibt, gibt es an Sudbury-Schulen einfach nur Mitarbeiter. Falls gerade kein Schüler ihre Mitarbeit benötigt, kümmern sich die Mitarbeiter z.B. um Verwaltungsarbeit oder gehen ihren eigenen Interessen nach.
Zensuren oder andere vergleichbare Bewertungen gibt es natürlich nicht. Wer eine Rückmeldung über seine Fähigkeiten haben will, kann einen Mitarbeiter oder andere Schüler um eine Einschätzung bitten. Wer dies unbedingt will, kann sich auch freiwilligen Tests unterziehen, die dann nur dem Schüler zur Information dienen, zu mehr nicht.
Im Laufe der Zeit entwickeln die Schüler spezielle Interessen, denen sie sehr ausgiebig nachgehen, zum Beispiel Musikinstrumente spielen, Computer programmieren, Latein lernen, Philosophie, höhere Mathematik, Quantenphysik, Chemie, usw. Meistens beschäftigen sie sich mit diesen Sachen nicht deshalb, weil sie in ihrem Leben eine Rolle spielen würden, sondern weil sie sich selbst herausfordern wollen. Die Schüler tun überwiegend nicht die Sachen, die ihnen leicht fallen, sondern gerade die, die ihnen schwer fallen. Sie sind sich ihrer Stärken und Schwächen sehr bewußt und arbeiten hart an Letzteren. Und wenn sie etwas nicht auf Anhieb schaffen, versuchen sie es eben noch mal und noch mal, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Sie erreichen Höchstleistungen, die nicht durch Drill und Zwang, sondern nur durch Freiwilligkeit erreicht werden können.
Organisation
Alle Angelegenheiten, die mit dem alltäglichen Betrieb der Schule zu tun haben, werden auf der wöchentlichen Schulversammlung geregelt, bei der jeder Schüler und jeder Mitarbeiter der Schule eine Stimme hat. Da die Schüler in der Überzahl sind, kann die Schulversammlung praktisch keine grundsätzlich gegen die Interessen der Schüler gerichteten Entscheidungen treffen. (Schülervertretung im klassischen Sinne ist innerhalb dieser Schule damit überflüssig.) Die Teilnahme an den Schulversammlungen ist keine Pflicht, aber wer fehlt, kann weder seine Ansichten einbringen noch mitbestimmen.
Sudbury-Schulen sind durchaus nicht „Schulen ohne Regeln“. Aber diese Regeln werden von der Schulversammlung diskutiert und auf demokratische Weise beschlossen.
Eine weitere Aufgabe dieses Gremiums ist die Bestimmung von Zuständigen für bestimmte Angelegenheiten, z.B. Grundstückpflege, Gebäudeerhaltung, Büroarbeiten, Einführungsgespräche mit Schülern, die sich an dieser Schule einschreiben wollen, sowie mit deren Eltern. Für Angelegenheiten, für die es nicht nur einen einzelnen Zuständigen geben soll, kann die Schulversammlung beschließen, Komitees einzurichten, z.B. für die Einrichtung und Gestaltung der Schule. Je nach Bedarf können auch das Amt von konkreten Zuständigen wieder abgeschafft bzw. Komitees aufgelöst werden.
An den meisten Schulen bekommen die Schüler die Lehrer bzw. sonstigen Angestellten einfach vorgesetzt; an Sudbury Valley wird einmal im Jahr von der Schulversammlung darüber abgestimmt, wer im nächsten Jahr als Mitarbeiter weiterbeschäftigt bzw. neu eingestellt wird. Mitarbeiter, die nicht nur von einigen Schülern, sondern von der Mehrheit, nicht gewollt werden, müssen dann nach einem Jahr wieder gehen. Allerdings wollen sie dann wahrscheinlich auch gar nicht an so einer Schule tätig sein. Im Prinzip ist das wie bei Politikern, die ja auch nicht – etwa aus arbeitsrechtlichen Gründen – automatisch im Amt bleiben, sondern sich regelmäßig wiederwählen lassen müssen. Die Wahl ist Ende Mai, und nicht wiedergewählte Mitarbeiter müssen dann zum Beginn des nächsten Schuljahres ausscheiden, so daß die Entlassung auch nicht allzu kurzfristig ist. Außerdem zeigt sich meist schon im Laufe des Schuljahres, wer gute Chancen hat. Und wenn Mitarbeiter die allgemeine (bzw. mindestens mehrheitliche) Zufriedenheit der Schulgemeinschaft finden, werden sie schließlich auch wiedergewählt.
Eltern können sich mit ihren Ideen einbringen und der Schule als Berater zur Seite stehen. Unmittelbare Mitbestimmung ist für die Eltern nicht vorgesehen, da sie nicht direkt von den Entscheidungen betroffen sind. (Bei diesem Punkt besteht eine Abweichung vom eigentlichen Konzept des Sudbury-Modells, das bei einer u.a. für den Finanzhaushalt der Schule zuständigen übergeordneten jährlichen Versammlung auch den Eltern ein Stimmrecht gibt.)
Eine faire Justiz gehört nicht nur zu einem freiheitlich-demokratischen Staat, sondern auch zu einer ebenso verfaßten Schule. Beschwerden über die Verletzung von Regeln werden von einem Justizkomitee untersucht, das auch berechtigt ist, Strafen auszusprechen. Das Justizkomitee besteht z.B. aus acht Leuten; zu zwei von der Schulversammlung direkt gewählten Vorsitzenden kommen fünf zufällig ausgewählte Schüler und ein Mitarbeiter. Die Besetzung des Justizkomitees kann z.B. monatlich neu bestimmt werden.
Auf eine Beschwerde folgt zunächst eine Untersuchung der Umstände. Ist diese abgeschlossen und die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet, wird eine Anklageschrift verfaßt, in der die vermuteten Regelverletzungen nochmals genau benannt werden. Bekennt sich der Beschuldigte für „schuldig“, kann sofort ein Urteil gefällt werden, andernfalls gibt es eine Verhandlung, in der Zeugen geladen werden können und die beschuldigte Person umfassende Möglichkeiten zur Verteidigung hat. Jeder Beschuldigte gilt dabei solange als unschuldig, bis die Verletzung einer Regel tatsächlich nachgewiesen werden konnte. Urteile, die als ungerecht empfunden werden, können angefochten und müssen dann vor der Schulversammlung erneut diskutiert und abschließend entschieden werden. Diese Verfahrensweise ist nicht ganz unbürokratisch, wird dafür aber von allen als gerecht empfunden. Und selbstverständlich werden nicht nur Schüler, sondern auch Mitarbeiter zur Verantwortung gezogen.
Ausstattung
Wenn eine Schule den Schülern vielfältige Bildungsmöglichkeiten bieten soll, muß sie auch entsprechend ausgestattet sein. Dazu zählt z.B. genügend Platz für alle Leute, so daß man sich bei Bedarf aus dem Weg gehen und sich zurückziehen kann. Um die Schule zu einem Ort zu machen, an dem die Schüler sich gern aufhalten, muß sie gemütlich eingerichtet werden.
Zu einer sinnvollen Ausstattung zählen vor allem auch vielfältige Materialien, mit denen die Schüler die Sachen, die sie wissen wollen, herausfinden können. Solche Materialien sind nicht nur Bücher aller Art, sondern auch sonstige Publikationen, Videos, CD-ROMs und genügend Internetzugänge. Zudem braucht man Computer mit aktueller Software, Möglichkeiten selbst Musik zu machen, verschiedenste Spiele und praktische Werkstätten für z.B. Holz- und Keramikarbeiten, eine Küche, ein möglichst großes und interessantes Außengelände, Möglichkeiten für sportliche Betätigung, Chemie- und Biolabor, Dunkelkammer, usw.
Da wahrscheinlich nicht jede Schule alle dieser Ausstattungsbestandteile hat, entsteht eine Kooperation mit anderen, auch außerschulischen, Einrichtungen.