Scratchbook

Das Leben ist immer anders als die Realität.

„Normal“

Claude, 28. Juli 2014, 12:45 Uhr

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Es gilt als normal, was die Mehrheit für richtig ansieht und wie sich die Meisten verhalten. In der Regel unterwerfen sich die Menschen dieser Norm oder passen sich ihr zumindest an.

Dabei steht dieselbe auf einem recht fragwürdigen Fundament. Allein die weite Verbreitung einer Vorstellungs- oder Verhaltensweise verschafft dieser noch lange nicht ihre Berechtigung und Richtigkeit. Als im Dritten Reich das Volk Hitler zujubelte und seine Kriegspläne unterstützte, war diese Haltung etwa, nur weil sie von der Mehrheit vertreten wurde, berechtigt und richtig? Ausgehend von der Tatsache, dass unter der Menschheit Gewalt, Egoismus und Ausbeutung weit verbreitet sind, müssten solche Zustände als richtig gelten, eine Auffassung, die wohl niemand ernsthaft vertreten will. Nächstenliebe und die Bereitschaft zum Verzichten oder Teilen hingegen sind eher selten und müssten folglich als verkehrte Verhaltensweisen gelten.

Menschen wie Gandhi oder Mutter Teresa stellen Ausnahmen dar; aber auch viele Künstler, Dichter und Erfinder waren Exzentriker abseits der breiten Masse. In einer statistischen Normenkategorie wären Einstein und Edison, Mozart und Goethe unnormal. Wer also davon ausgeht, dass die Mehrheit bestimmt, was normal ist, kommt in Erklärungsnot. Sind Linkshändler unnormal, nur weil sie nicht der Majorität entsprechen? Eine Minderheit der Bevölkerung ist rothaarig, sammelt Briefmarken und hat Asthma; sind diese Menschen deshalb Außenseiter? Ein Intelligenzquotient von 100 gilt als durchschnittlich und daher als normal. Ist eine Person mit einem Wert von 130 demnach unnormal? Die Natur selbst ist unendlich vielfältig und durch viele Ausnahmeerscheinungen gekennzeichnet, wie jeder Biologe bestätigen kann.

Gerade die Mannigfaltigkeit, Anpassungsfähigkeit und die abweichenden Formen oder Mutationen aber sind es, die Tiere und Pflanzen nicht nur für den Betrachter so faszinierend machen, sondern wodurch auch das Überleben gesichert wird.

Es wird deutlich: Eine Definition von Normalität, beruhend auf dem Argument eines häufigen Vorkommens oder einer Mehrheit, bietet keine ausreichende Grundlage für ein Wertesystem. Trotzdem wird einer Norm der Mehrheit häufig sogar eine „ethische“ Bedeutung verliehen, wie zum Beispiel in Form der Demokratie. Mehrheitsentscheidungen als bestimmendes Element eines Staatswesens sind jedoch nur in Verbindung mit dem Prinzip der Freiheit und eines humanen Pluralismus – dem Respekt vor der Vielfältigkeit und der Achtung des Andersartigen – ethisch gerechtfertigt. Wo solches nicht gegeben ist, wird die – auch schweigende – Mehrheit zum Scharfrichter. Im Mittelalter waren es Ketzer und „Hexen“, die von der Bevölkerung denunziert und öffentlich verbrannt und ertränkt wurden. Im Dritten Reich waren es Juden, Zigeuner (wie man sie nannte) und Homosexuelle, die als „asoziale Elemente“ gebrandmarkt wurden und in die KZs verschleppt wurden. Selbst Behinderte wurden als „lebensunwertes Leben“ ausgemerzt.

Immer ging es darum, das nicht der Norm Entsprechende zu eliminieren. Heute sind es pädophil empfindende Menschen, die ausgegrenzt und als (potenzielle) „Kinderschänder“ diffamiert und bedroht werden und viele bedauern, dass man sie nicht mehr mit den früheren Methoden als gesellschaftliche Abweichler ausmerzen kann.

Allein mit dem Maßstab der Mehrheitsnorm kann und darf ein sexuelles oder sonstiges Verhalten nicht bewertet werden. Wo dies geschieht werden sexuelle und andere Randgruppen mit ihren Bedürfnissen und Forderungen nicht ernst genommen oder es wird ihnen sogar die Existenzberechtigung abgesprochen. Bei einer auf der (zeitweiligen) Meinung beruhenden gesellschaftlichen Mehrheit besteht immer die Gefahr, dass Außenseiter für soziale Missstände verantwortlich gemacht und zu Sündenböcken erklärt werden.

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